Author/Uploaded by Hilmes, Oliver
Das Unheil nimmt seinen Lauf bei Kaffee und Kuchen. Der Krieg sei längst verloren, der »Führer« geisteskrank: Karlrobert Kreiten, 26 Jahre alt, ein hochbegabter Pianist mit goldener Zukunft, verliert im März 1943 ein unbedachtes Wort zu Gast bei einer Jugendfreundin seiner Mutter. Sechs Monate später stirbt er am Galgen. Kreitens tragisches Schicksal steht im Mittelpunkt von...
Das Unheil nimmt seinen Lauf bei Kaffee und Kuchen. Der Krieg sei längst verloren, der »Führer« geisteskrank: Karlrobert Kreiten, 26 Jahre alt, ein hochbegabter Pianist mit goldener Zukunft, verliert im März 1943 ein unbedachtes Wort zu Gast bei einer Jugendfreundin seiner Mutter. Sechs Monate später stirbt er am Galgen. Kreitens tragisches Schicksal steht im Mittelpunkt von Oliver Hilmes’ grandios erzähltem Buch über Deutschland im Jahr 1943. Als bei Stalingrad eine ganze Armee vernichtet wird und Goebbels den totalen Krieg ausruft. Als die Kinder zur Sicherheit aufs Land gebracht werden und Millionen Deutsche ins Kino strömen, um Hans Albers als Münchhausen zu erleben. Als die Städte schon in Trümmern liegen und noch immer getanzt wird. Als die NS -Vernichtungsmaschinerie auf Hochtouren läuft, die einen vom »Endsieg« fantasieren und die Geschwister Scholl und andere versuchen, sich der Diktatur entgegenzustellen. In einem Mosaik von Geschichten und Porträts, kunstvoll komponiert und durch neue Quellenfunde dokumentiert, lässt Hilmes das dramatische Jahr 1943 lebendig werden. Oliver Hilmes ist für seine glänzend recherchierten und ebenso elegant wie mitreißend geschriebenen Biografien bekannt. Seine Bücher über Alma Mahler-Werfel und Cosima Wagner waren große Verkaufserfolge. Sein Bestseller Berlin 1936. Sechzehn Tage im August wurde in viele Sprachen übersetzt und mit internationalen Preisen ausgezeichnet. Oliver Hilmes, 1971 geboren, studierte Geschichte, Politik und Psychologie und hat in Zeitgeschichte promoviert. Seit 2002 arbeitet er für die Stiftung Berliner Philharmoniker. Besuchen Sie uns auf www.siedler- verlag.de. Schattenzeit Deutschland 1943: Alltag und Abgründe upped by @surgicalremnants Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Copyright © 2023 by Siedler Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO , München Umschlagabbildung: Charlie Davis Satz: KCFG –Medienagentur, Ness Upper: upped by @surgicalremnants ISBN 978-3-641-28654-5 V002 www.siedler-verlag.de Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Franz Kafka, Der Prozess Inhalt Stalingrad Die Rede Lützowufer Trügerische Ruhe Das ungespielte Konzert Enttäuschte Hoffnungen Tanz am Abgrund Agonie Plötzensee Nachleben Dank Anmerkungen Quellenverzeichnis Literatur imago images/Ronald Grant Ende Januar 1943 kommt der Film Casablanca in die amerikanischen Kinos. In den Hauptrollen: Ingrid Bergman und Humphrey Bogart. »Spiel’s noch einmal, Sam!« Stalingrad Karlrobert Kreiten ist ein ungewöhnlich ruhiges Kind. Wenn andere Kinder auf dem Trottoir spielen oder im Garten herumtollen, hockt er am liebsten still und ruhig im elterlichen Musiksalon direkt unter dem großen Konzertflügel des Vaters. Oft stundenlang. Nicht, dass er dazu gezwungen würde, ganz im Gegenteil. Den Eltern wäre es vermutlich recht, wenn sich ihr Sohn lebhafter zeigte. Nein, der kleine Karlrobert tut dies freiwillig, denn die Musik ist für ihn die beste Geschichtenerzählerin, die er sich denken kann. Und Musik erklingt bei den Kreitens eigentlich immer: Entweder spielt Vater Theo Klavier, oder er komponiert, oder Mutter Emmy singt, oder Freunde sind zu Gast und musizieren auf ihren mitgebrachten Instrumenten. Oft passiert all das auch gleichzeitig – dann sind die Geschichten, denen Karlrobert unter dem Flügel hockend lauscht, besonders spannend, und er träumt sich in andere Welten. Die Kreitens sind eine richtige Künstlerfamilie. Emmy stammt aus dem Eifeldorf Mayen in der Nähe von Koblenz und hat in Saarbrücken Gesang studiert. Dort lernt sie den sieben Jahre älteren Theo kennen und lieben; die beiden heiraten 1913 und lassen sich zunächst in Bonn nieder. Schon rein äußerlich erinnert Theo an einen zerstreuten Professor: schmales Gesicht, hohe Stirn, die leicht gelockten Haare stehen wie elektrisch geladen in alle Himmelsrichtungen ab. Ist Emmy von zupackender Natur und nahezu unerschöpflicher Vitalität, erscheint ihr Mann eher ruhig und in sich gekehrt. 1916 wird Karlrobert geboren, zwei Jahre später seine Schwester Rosemarie. In dieser Zeit zieht die Familie von Bonn nach Düsseldorf, wo Theo eine Anstellung als Klavierlehrer am Konservatorium findet. Das emotionale Zentrum der Familie ist Emmys Mutter Sophie, die 1871 als Kind französischer Eltern in Spanien zur Welt kam. Sophie ist früh verwitwet und lebt seither bei Emmy und Theo. Sie spricht mit ihren Enkeln Französisch und bringt Weltläufigkeit und Eleganz nach Düsseldorf. Karlrobert und Rosemarie lieben Sophie und nennen sie zärtlich »Grand’maman«. Oft reist sie mit den Kleinen auch nach Frankreich, wo Verwandte leben. Überhaupt sind die Kreitens ein europäischer Clan, denn Vater Theo ist niederländischer Staatsbürger. Doch das spielt für sie keine Rolle. Man interessiert sich nicht sonderlich für Politik. Zu Beginn des Jahres 1943 gibt es nicht wenige Musikfreunde, die in dem inzwischen sechsundzwanzigjährigen Karlrobert Kreiten einen der vielversprechendsten Musiker seiner Generation erblicken. Der kleine Junge unter dem Flügel ist wie sein Vater Pianist geworden und hat sich bereits einen Namen gemacht. Wenn Karlrobert seinen bisherigen Werdegang Revue passieren lässt, kann ihm schon etwas schwindelig werden. Mit sechzehn Jahren gewann er 1933 den vom preußischen Staat gestifteten Mendelssohn-Preis. Zwei Jahre später ging er nach Wien, um bei der berühmten Hedwig Kanner-Rosenthal zu studieren. Als seine Lehrerin wegen ihrer jüdischen Abstammung Wien verlassen musste und in die Vereinigten Staaten emigrierte, versuchte sie, Karlrobert zu überreden, ihr zu folgen. »Ich ha be das Gefühl, dass Du in U.S.A. einschlagen würdest« , schr ieb sie ihm. Doch Karlrobert winkte ab. Er wollte seine Karriere lieber in Europa fortsetzen, darüber hinaus hing er sehr an seiner Familie, die er nicht verlassen mochte. Und so kam er Ende