Author/Uploaded by Sander, Karen
Karen Sander Der Strand: Vergessen Thriller Wenn Sie gerne reisen, klicken Sie hier Über dieses Buch Eine junge Frau wird vermisst. Seit fast drei Wochen. Die Spur führt zu einem alten Fall … Die 19-jährige Lilli Sternberg ist höchstwahrscheinlich tot. Längst gibt es keine Lebenszeichen me...
Karen Sander Der Strand: Vergessen Thriller Wenn Sie gerne reisen, klicken Sie hier Über dieses Buch Eine junge Frau wird vermisst. Seit fast drei Wochen. Die Spur führt zu einem alten Fall … Die 19-jährige Lilli Sternberg ist höchstwahrscheinlich tot. Längst gibt es keine Lebenszeichen mehr von ihr, keine per Handy verschickten Nachrichten. Doch Hauptkommissar Tom Engelhardt und LKA-Kryptologin Mascha Krieger wollen sich nicht damit abfinden, dass Lillis Schicksal ungeklärt bleibt. Gemeinsam mit ihrem Team stoßen sie auf eine Spur: Dort, wo die Polizei Blut von Lilli gefunden hat, wurde zwei Jahrzehnte zuvor die Leiche ihrer Mutter Cornelia entdeckt. Der mutmaßliche Täter wurde gefasst und ist inzwischen tot. Wurde damals der Falsche verurteilt? Ist der wahre Mörder noch immer auf freiem Fuß und hat nun auch die Tochter umgebracht? Tom Engelhardt & Mascha Krieger ermitteln. Vita Karen Sander arbeitete als Übersetzerin und unterrichtete an der Universität, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie hat über die britische Thriller-Autorin Val McDermid promoviert. Ihre Bücher wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und haben eine Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplaren. Mit ihrem Mann lebt sie die Hälfte des Jahres in ihrer Heimatstadt Düsseldorf. Die übrige Zeit reist sie durch die Welt und schreibt darüber in ihrem Blog. Mehr unter: writearoundtheworld.de Impressum Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2023 Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg Redaktion Tobias Schumacher-Hernández Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages. Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg Coverabbildung golero/iStock; Shutterstock Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen. ISBN 978-3-644-01207-3 www.rowohlt.de Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe. Zuvor Donnerstag, 5. September Sellnitz auf dem Darß, nachmittags E s ist der gleiche Wald wie immer, der Wald, den sie seit ihrer Kindheit kennt, doch heute ist er ihr fremd. Die knorrigen Eichen wirken abweisend, die schmalen Wasserrinnen zwischen den herbstgelben Blättern des Adlerfarns schimmern bedrohlich schwarz. Lilli tritt fest in die Pedale, als könnte sie so die Beklemmung vertreiben. Es ist warm, fast sommerlich. Trotzdem fröstelt sie. Sie ist nervös. Und sie hat Angst. Immer wieder blickt sie über die Schulter. Bestimmt ist der Wald voller Geräusche. Ben hat ihr beschrieben, wie raschelndes Laub klingt und der Gesang der Feldlerche. Sie haben den verschiedenen Lauten Farben zugeordnet. Das Rauschen des Meeres ist türkis, das Singen des Windes in den Kronen der Kiefern himmelblau. Den Schritten eines Verfolgers haben sie nie eine Farbe gegeben. Es würde auch nicht helfen gegen das Unbehagen. Lillis Kehle ist so eng, dass ihr das Atmen schwerfällt. Aber sie ist fest entschlossen. Was immer es kostet, sie wird es durchziehen. «Alles wird gut gehen», sagt sie sich. «In ein paar Tagen ist es vorbei, du darfst jetzt nicht schwach werden.» Ben hat sie eben noch einmal gefragt, ob sie sich auch ganz sicher ist. Ja, das ist sie. Sie hat lange genug gezögert, sich mit Halbwahrheiten vertrösten lassen. «Du musst das nicht tun.» Ben hat sie eindringlich angesehen. «Aber ich will. Du hilfst mir doch? Oder hast du es dir anders überlegt?» Langsam ließ sie ihre Hand nach der letzten Gebärde von der Schläfe sinken. Er wischte mit dem Zeigefinger von links nach rechts. «Nein, natürlich nicht.» Sie weiß, dass sie sich auf Ben blind verlassen kann. Er ist ihr Halt, ihr Fels in der Brandung. Ohne Ben würde sie das nicht durchstehen. Kein Mensch ist ihr so nah. Das war schon immer so, sie kann sich nicht an eine Zeit erinnern, in der er nicht in ihrem Leben war. Sören versteht das nicht, er hält Ben für einen Nebenbuhler. So ein Unsinn. Ben ist ihr Bruder, ihr Blutsbruder. Sie erinnert sich noch genau an den Tag, als sie mit dem rostigen Taschenmesser in ihre Arme geritzt haben, um ihr Blut zu mischen, oben auf dem Heuboden in der Scheune. Sie muss damals sechs gewesen sein und Ben acht. Untrennbar verbunden, bis in alle Ewigkeit. Wenn man genau hinsieht, erkennt man noch immer die helle dünne Narbe auf der Innenseite ihres Unterarms. Bens Vater hat da noch gelebt. Er hat sie erwischt und ein Riesentheater gemacht. Hat Ben zusammengeschissen, weil er das arme kleine Mädchen zu so einem gefährlichen Unsinn angestiftet habe. Der faule Nichtsnutz, der bloß dumme Ideen im Kopf habe. Lilli hat protestiert, es war ihre Idee gewesen, nicht Bens. Sie war die Wildere von ihnen beiden gewesen, zumindest damals. Aber es hat nichts geholfen, Bens Vater konnte keine Gebärden, er hat sie nicht einmal wahrgenommen. Ben bekam eine Woche Hausarrest, und zudem wahrscheinlich eine ordentliche Tracht Prügel, auch wenn er das ihr gegenüber nie zugegeben hat. Doch Lilli kannte seinen Vater. Er war ein Mann mit festen Grundsätzen, und einer davon lautete, dass man Worten auch Taten folgen lassen musste, gerade bei ungezogenen Jungen. Bens Mutter war damals schon tot. Wenn Lilli sich anstrengt, kann sie das Bild einer freundlichen, warmherzigen Frau heraufbeschwören, die in einem abgedunkelten Zimmer im Bett liegt, schwer gezeichnet von der Krankheit, die sie langsam tötet, aber dennoch tapfer ihrem Sohn Mut zuspricht. Manchmal ist sie traurig, dass sie eine Erinnerung an Bens Mutter hat, aber keine einzige an ihre eigene. Der Abzweig kommt in Sicht. Geradeaus geht es zum Strand, wo sie mit Fabienne verabredet ist. Lilli zwingt sich, nicht an ihre Freundin zu denken. Nicht an Fabienne, nicht an ihre Großeltern. Nicht an Sören. Sie will niemandem wehtun, vor allem nicht den Menschen, die sie liebt. Aber sie muss das jetzt tun, es gibt keinen anderen Weg. Sie fährt nicht weiter zum Strand, sondern biegt links ab Richtung Parkplatz Krielmoor. Zum Glück ist auch hier niemand zu sehen, der Wald liegt verlassen da. Die Eichen sind Kiefern und weiß leuchtenden Birken gewichen.