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Melody

Author/Uploaded by Martin Suter


 
 
 
 
 
 
 Martin Suter
 
 
 Melody
 
 
 Roman
 
 Diogenes
 
 
 
 
 Für Margrith und Ana
 
 
 
 
 
 ERSTER TEIL
 
 
 
 
 
 1
 
 
 
 W
 as er alles tat für nichts und wieder nichts.
 Tom stand vor dem Spiegel und band sich die Krawatte. Inzwische...

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 Martin Suter
 
 
 Melody
 
 
 Roman
 
 Diogenes
 
 
 
 
 Für Margrith und Ana
 
 
 
 
 
 ERSTER TEIL
 
 
 
 
 
 1
 
 
 
 W
 as er alles tat für nichts und wieder nichts.
 Tom stand vor dem Spiegel und band sich die Krawatte. Inzwischen hatte er ein wenig Übung darin, nach so vielen Vorstellungsgesprächen. Am Anfang trug er keine, er suchte ja keinen Krawattenjob. Seine Abschlussnoten waren Krawatte genug, fand er. Doch inzwischen hatte er die Milch heruntergegeben, wie sein Vater sich auszudrücken pflegte. Tom hatte nie herausgefunden, woher die Redensart kam. Aber was sie bedeutete, war ihm schon klar: vom hohen Ross herunterkommen.
 Jetzt war er unten. Mit Krawatte.
 Tom besaß ein Double Degree. Zwei Master of Law, einen der hiesigen Uni und einen des King’s College London. Für Letzteren hatte er zwei Studienjahre angehängt, weil er seinen Abschluss hatte hinauszögern wollen. Sein Vater bezahlte ihm das Studium, und Tom hatte keinen Grund und keine große Lust, berufstätig zu werden.
 Ursprünglich hatte er geplant, nach New York zu gehen und dort auch noch das Bar Exam abzuschließen. Doch kurz vor der Abreise nahm sich sein wohlhabender Vater das Leben. Es stellte sich heraus, dass der Grund dafür eine ausweglose Verschuldung war.
 Auf seine Mutter, die seit ihrer Scheidung mit einem 
 Forstingenieur in Kanada lebte, konnte er nicht zurückgreifen, und so war Tom gezwungen, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Etwas, das sich nicht als so einfach herausstellte, wie er gedacht hatte. Seit nun schon sechs Wochen war er auf Jobsuche. Inzwischen auch nach einem, der nichts mit seiner Ausbildung zu tun hatte.
 Die Stelle, für die er sich an diesem Morgen bewarb, hatte er, ganz altmodisch, in einer Anzeige in der Tageszeitung gefunden. Sie lautete:
 
 Gesucht: Vertrauenswürdiger, gebildeter jüngerer Mann für Nachlassordnung. Juristische Vorkenntnisse erwünscht. Vollzeit. Faire Bezahlung.
 
 Die Anzeige war – auch das ziemlich altmodisch – chif‌friert. Tom hatte sein Standardbewerbungsschreiben und sein Curriculum an die Chif‌fre gesandt und die Sache als Bewerbung abgehakt.
 Es stimmte nicht ganz, dass er es für nichts und wieder nichts tat. Er tat es als Beweis dafür, dass er sich bewarb und nichts als Absagen bekam. Er brauchte das für sein Arbeitslosengeld.
 So weit war es mit ihm gekommen: arbeitslos. Bald würde er über seinen Schatten springen müssen und sich auf dem Arbeitsamt melden. Er, Tom Elmer, 30
 , LL
 .M
 . Die Milch war wirklich ganz unten.
 Dann war der Brief gekommen. Absender: Dr. Peter Stotz, Weilstammweg 12
 , Zürich. In einer sorgfältigen Altherrenschrift bezog er sich in knappen Sätzen auf Toms Bewerbung und bat ihn für den kommenden Freitag um 
 09
 :30
 Uhr zu einem Vorstellungsgespräch zu sich. Mit der Bitte um eine kurze »postalische Bestätigung«.
 Tom sagte zu.
 Es war Viertel vor sieben. Er erinnerte sich nicht, wann er das letzte Mal um diese Zeit auf den Beinen gewesen war. Schon oder noch.
 Er zog den Krawattenknoten fest 
 
 
 2
 
 
 
 D
 er Weilstammweg lag in einem verschachtelten Villenviertel. Das Haus neben der Nummer 12
 war von einem Baugespann umgeben. Profile zeigten die Dimensionen des Neubaus an, der dort geplant war.
 Die Villa, vor deren Gartentor Tom jetzt stand, war ein klassizistisches Gebäude aus dem 19
 . Jahrhundert, wohlproportioniert und groß.
 Es sah aus, als wären in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts Teile des ursprünglichen Grundstücks verkauft und mit Ein- und Mehrfamilienhäusern bebaut worden. Der Garten war nun für die Villa viel zu eng. Zwei wohl zwanzig Meter hohe Rottannen bedrängten zusätzlich das gelbe Gebäude. Die Eingangstür war von zwei Säulen flankiert, die einen Balkon trugen. Auf dem Giebel darüber prangte in vergoldeten Lettern die Inschrift: Tempus fugit, amor manet
 . Sie sah aus wie frisch restauriert und bildete einen seltsamen Gegensatz zu der verwitterten Fassade.
 Auf dem schwarz angelaufenen Messingschild über der Klingel stand Dr. P.S.
 Tom klingelte.
 Es dauerte eine ganze Weile, bis der Türöffner surrte und das schmiedeeiserne Gartentor freigab. Tom stieg die drei Granitstufen zum Plattenweg hinauf.
 
 Die Fugen waren moosig, die Beete auf beiden Seiten mit Farn überwachsen.
 Nach ein paar Schritten hatte er die Hausecke erreicht. Dort teilte sich der Weg. Rechts ging es zum Haupteingang, geradeaus an der efeuüberwachsenen Fassade entlang zu einer Tür zwischen zwei vergitterten schmalen Fenstern. Sie stand offen, und eine ältere Frau in einer Schürze, das schneeweiße Haar straff nach hinten zu einem Zopf gebunden, erwartete ihn.
 »Herr Elmer«, stellte sie mit Akzent fest, spanisch oder italienisch.
 Neben der Tür war ebenfalls ein Messingschild angebracht, aber dieses war poliert. Lieferungen
 war darauf eingraviert.
 Sie führte ihn durch einen Korridor, vorbei an einem Of‌f‌ice und einer Küche, aus der es nach Kaffee duftete, in ein Vestibül. Dort bat sie ihn zu warten.
 Zwei geschwungene Treppen führten von beiden Seiten des Raumes zu einer Balustrade. In der Mitte des Raumes hing ein Messingkronleuchter mit Kerzenimitaten. Eine kleine Sitzgruppe stand zwischen zwei der Türen, die in die verschiedenen Räume des Erdgeschosses führten. An der gegenüberliegenden Wand hing, üppig in Gold gerahmt, ein großer ovaler Spiegel.
 Es roch nach Tabakpfeife, Kaffee und Vergangenem.
 Die Frau kam zurück. »Bitte«, sagte sie und deutete auf die Tür, aus der sie gerade gekommen war.
 Der Raum, in den sie ihn führte, war ein Salon. Bücherregale, wohin das Auge reichte. Tief in einem Ledersessel versunken saß ein alter Mann vor einem Kaminfeuer und 
 rauchte Pfeife. Buschige, tiefschwarze Augenbrauen hoben sich von der bleichen, etwas durchsichtig wirkenden Haut seines eingefallenen Gesichts ab. Sein zurückgekämmtes Haar war silbern und dicht, sein Haaransatz lag tief auf der seltsam glatten Stirn. Der dünne Hals ragte aus einem zu weit gewordenen Kragen über einer sorgfältig gebundenen Krawatte. Der Anzug, den er trug, war aus zu viel Stoff für seinen mageren Körper.
 »Setzen Sie sich, ich

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